Häufig treten bei neurologischen Erkrankungen wie z.B. Schädel-Hirn-Traumata oder Multipler Sklerose Begleiterkrankungen auf (Komorbiditäten). Da Krankheiten, Unfälle und andere persönliche Schicksalsschläge tiefgreifende Veränderungen im Leben der Betroffenen als auch ihres Umfeldes verursachen, kommen insbesondere psychische und körperliche Beschwerden hinzu. Hierbei handelt es sich zumeist um depressive Beschwerden und Ängste. Oft ist das Selbstwerterleben betroffen und führt zu sozialer Isolation. Bei rund der Hälfte aller Patient:innen mit neurologischen Erkrankungen treten komorbide psychische Störungen auf.
Zu unterscheiden sind diese von den funktionellen neurologischen Störungen. Bei ihnen handelt es sich um neurologische Beschwerden, die nicht durch eine bekannte körperliche neurologische Erkrankung erklärt werden können. Man nimmt hier sogenannte funktionelle Veränderungen bei unveränderter Struktur des Gehirns und der Nerven an. Manchmal spielen psychische Faktoren eine Rolle, aber nicht immer. Eine funktionelle neurologische Störung kann unterschiedliche Körperregionen betreffen und unterschiedliche Beschwerden hervorrufen. Einige Patient:innen haben Lähmungserscheinungen, andere leiden an unwillkürlich auftretenden Bewegungen oder an Schwindel. Funktionelle neurologische Störungen treten ebenfalls häufig auf; rund die Hälfte ist durch einen chronischen Verlauf gekennzeichnet.
Patient:innen, die an Multipler Sklerose erkrankt sind, leiden ebenfalls häufig an Ängsten und Depressionen. Zusätzlich sind sie in ihrer Lebensqualität durch Fatigue („Erschöpfungssyndrom“) beeinträchtigt. Zwischen 75 bis 95 Prozent der Patient:innen sind hiervon betroffen; besonders junge Frauen, die ihr Leben bewältigen müssen, was Aspekte der Familienplanung, des Berufs sowie die häufige Angst vor neuen Schüben einschließt. Von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft zertifizierte MS-Rehabilitationszentren befinden sich in den Kliniken Schmieder Konstanz und in den Kliniken Schmieder Gailingen.
Bei Patient:innen mit zerebro-vaskulären Erkrankungen besteht eine häufige Komorbidität mit affektiven Störungen wie Depressionen oder Ängsten sowie Problemen bei der Krankheitsbewältigung. Zumeist ist dies reaktiv bedingt, kann aber auch durch den Schlaganfall selbst (also die Gehirnschädigung) bedingt sein.
Von Schädelhirntraumen können verschiedene Altersgruppen betroffen sein. Gerade bei diesem Krankheitsbild gilt es die neuropsychologischen Defizite, die häufig auftreten, sorgfältig zu differenzieren. Es kommen Impulskontrollstörungen, affektive Störungen sowie - bisher noch wenig beachtet - posttraumatische Belastungsstörungen vor.
Neuroonkologie: Mindestens 30 Prozent aller Patienten mit malignen Erkrankungen leiden unter manifesten psychischen Störungen; bei neurologischen Tumoren sind es bis zu 60 Prozent. Tumore, auch gutartige, sind für Patienten sehr belastend, da sie das „Denk- und Gefühlsorgan“, das Gehirn betreffen. Trotz Fortschritte bei verschiedene Therapiemethoden (Chirurgie, Strahlentherapie oder Chemotherapie) bleibt aufgrund der unsicheren Prognose und der Progredienzgefahr eine erhebliche Belastung für die Patienten und deren Familien bestehen.
Alle Komorbiditäten können in der Spezialabteilung „Psychotherapeutische Neurologie“ in den Kliniken Schmieder Gailingen behandelt werden.
Funktionelle neurologische Störungen, auch Konversionsstörungen oder dissoziative neurologische Störungen genannt, sind weit verbreitet. Rund 10 Prozent der stationären Patient:innen sind davon betroffen und ca. 30 Prozent der Patient:innen in neurologischen Praxen. Rund die Hälfte der Betroffenen hat einen chronischen Verlauf sowie häufige sozialmedizinische Probleme. Die Patient:innen sind in der Regel durch die fehlende „spezifische neurologische Diagnose“ sehr verunsichert. Deshalb besteht oft ein somatisches Krankheitsverständnis.
Therapieangebote finden sich kaum. Seit vielen Jahren behandelt die Spezialabteilung Psychotherapeutische Neurologie in Gailingen diese Gruppe von Patient:innen und integriert dabei psychotherapeutisch-psychosomatische und neurologische Module.
Voraussetzung ist eine respektvolle offene therapeutische Grundhaltung. Es wird ganzheitlich im Sinne einer integrativen biopsychosozialen Haltung therapiert. Die Patient:innen erhalten entsprechend alle Funktionstherapiemodule einer neurologischen Rehabilitationsklinik (Physio-, Ergo-, Logo-, Sporttherapien etc.) ebenso wie Entspannungsgruppen, Achtsamkeit, Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Kreativtherapien (körperorientierte Verfahren, Gestaltungstherapien, Musiktherapie) sowie psychoedukative Gruppen (Schmerz-, funktionelle Störungen).
Die Berufstherapie ist neben neurologischen Funktions- und Psychotherapien im Rahmen der Rehabilitation eine dritte Säule, da bei diesen Patient:innen besondere berufliche Problemlagen bestehen mit oft langen Arbeitsunfähigkeitszeiten und Gefährdung der Erwerbsfähigkeit; dabei sind auch Kenntnisse komplexer komorbider Krankheitsbilder erforderlich, über die unsere Berufstherapeut:innen und Sozialdienstmitarbeitenden verfügen.
Psychische Störungen finden sich unabhängig ihrer Krankheitsursache häufig bei Patient:innen mit neurologischen Erkrankungen und können deren Krankheitsverlauf maßgeblich mitbestimmen. Behandlungskonzepte für neurologische Patient:innen mit psychischen Störungen sind national und international kaum vorhanden. Mit der Spezialabteilung „Psychotherapeutische Neurologie“ hat sich seit vielen Jahren ein international einmaliges erfolgreiches medizinisches Rehabilitationsangebot an unserer Einrichtung etabliert, das psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung in die Expertise von neurologischer Diagnostik und Therapie einer großen neurologischen Fach- und Rehabilitationsklinik integriert.
Herr Herrmann, was versteht man unter komorbiden psychischen Störungen, was unter funktionellen neurologischen Störungen?
Herrmann: Unter „komorbiden, psychischen Störungen“ bei neurologischen Erkrankungen bezeichnen wir begleitende psychische Symptome der neurologischen Grunderkrankung selbst oder psychische Reaktionsbildungen infolge der Auseinandersetzung mit der Krankheitserfahrung. Beispielsweise treten nach Schlaganfall bzw. bei Multipler Sklerose oder Morbus Parkinson typischerweise depressive Störungen auf, wobei die Unterscheidung, ob eine organisch-psychische oder reaktive Ursache vorliegt, oft schwerfällt. Gleichzeitig können psychische Störungen, wie etwa Angsterkrankungen aber auch eigenständig als Begleiterkrankungen unabhängig von einer neurologischen Erkrankung bereits vorbestehen.
Sogenannte „funktionelle neurologische Störungen“ sind eigenständige Krankheitsbilder mit neurologischen Symptomen, meist bei zugrundeliegendem inner-psychischen Konflikt. Beispiele hierfür können neurologische Symptome wie Anfälle, Schwindel, Gangstörungen, Lähmungen, Tremor (Zittern) oder Sprechstörungen sein.
Was sind typische reaktive psychische Störungen bei neurologischen Erkrankungen?
Herrmann: Im Rahmen der persönlichen Auseinandersetzung mit einer neurologischen Erkrankung, die mit körperlichen, kognitiven oder seelischen Störungen einhergehen kann, kommt es häufig zu einer erheblichen psychischen Belastung. Bei Schlaganfällen, Multipler Sklerose oder Migräne kommt es in einem Drittel bis zur Hälfte der Patient:innen zu entsprechenden erheblichen psychischen Begleitstörungen. Meist handelt es sich dabei um Ängste und Depressionen, die auch länger anhalten können.
Nach Unfällen mit Schädelhirntrauma können darüber hinaus auch sogenannte „posttraumatische Belastungsstörungen“ auftreten, die teilweise übersehen werden. Diese psychischen Begleiterkrankungen haben enorme Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen, aber auch ihres sozialen Umfeldes, wie der Familie. Gleichzeitig können sie die medizinische Rehabilitation der neurologischen Erkrankung erheblich beeinträchtigen und auch die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit gefährden.
Was muss man sich unter funktionellen neurologischen Störungen vorstellen, was liegt diesen Erkrankungen zugrunde?
Herrmann: Der Ausdruck „funktionelle neurologische Störung“ beschreibt, dass sich keine derzeit bekannte körperliche Ursache als Erklärung für die vorhandenen, zum Teil schwerwiegenden neurologischen Symptome findet. Diese wurden traditionell auch Konversionsstörungen oder dissoziative Störungen genannt. Häufig wird eine psychische Ursache vermutet. Der Begriff Konversion bedeutet, dass ein unerträglicher innerer, oft unbewusster Konflikt ins Körperliche übertragen wird. Sigmund Freud sprach vom „rätselhaften Sprung ins Körperliche“.
Obwohl psychische Aspekte oft eine Rolle spielen, kann dies nicht immer nachgewiesen werden und ist in den aktuellen diagnostischen Kriterien auch nicht mehr zwingende Voraussetzung zur Diagnosestellung. Teilweise kommt es zu funktionellen Störungen auch nach Unfällen – wobei sich diese Störungen dann aber nicht durch eine sichtbare Schädigung des Gehirns oder der Nerven auszeichnen.
Heute weiß man jedoch, dass die sogenannten funktionellen neurologischen Störungen oft tatsächlich durch eine Funktionsstörung des Gehirns mitbedingt sind, obwohl die sichtbare Struktur des Gehirns und der Nerven unauffällig ist. Diese Veränderungen sind aber so gering, dass sich solche Effekte nur durch den Vergleich von Gruppen mit mehreren Patient:innen im Vergleich zu Gesunden nachweisen lassen.
Wie häufig treten diese psychischen Störungen auf?
Herrmann: Wie bereits geschildert leidet ein Drittel bis die Hälfte der Patientinnen und Patienten mit chronischen neurologischen Erkrankungen unter psychischen Komorbiditäten. Sehr häufig liegt eine Depression vor, da die Betroffenen unter chronischem Stress leiden und dies eine der Hauptursachen für Burnout und Erschöpfungsdepression ist. Oft werden diese jedoch leider nicht ausreichend beachtet und behandelt. Mittlerweile richtet die Medizin das Augenmerk aber vermehrt auf diese Aspekte, die die Lebensqualität enorm beeinflussen.
Funktionelle neurologische Störungen sind lange bekannt und deren Häufigkeit hat sich nicht verändert und liegt bei ca. 50 auf 100.000 Einwohner:innen. Gut bekannt ist, dass diese Störungen in Fachpraxen 20-30 % der Patient:innen ausmachen und auch im stationären Rahmen rund 10 % der neurologischen Patient:innen unter rein funktionellen Beschwerden leiden. Beispielsweise finden sich auch in Schwindelambulanzen der Universitäten psychische Störungen mit Behandlungsbedarf in knapp 50% aller Patient:innen; hierzu zählt beispielsweise auch der phobische Schwankschwindel. Letzterer entwickelt sich häufig bei vorausgegangenem akutem Gleichgewichtsausfall als sekundäre eigenständige Angsterkrankung. Selten kommt es auch zu der Situation, dass jemand an einer neurologischen Störung leidet und zusätzlich an einer funktionellen, wie z.B. an einer Epilepsie mit epileptischen und zusätzlichen funktionellen nicht-epileptischen Anfällen.
Wie behandeln Sie diese Störungsbilder?
Herrmann: Wir vertreten ein sogenanntes integratives bio-psycho-soziales Behandlungskonzept. Dies heißt konkret, dass wir im Rahmen der Therapien auf die neurologischen Beeinträchtigungen, wie Lähmungen, Sprachstörungen durch entsprechende Therapien wie beispielsweise Physiotherapie, Sport- und Bewegungstherapie oder Logopädie eingehen. Wenn nötig, können wir die Diagnostik komplettieren – wir verfügen über alle Untersuchungsmöglichkeiten einer modernen, neurologischen Akutklinik.
Zusätzlich erhalten die Patient:innen ausreichend Informationen über das Störungsbild und unsere heutigen wissenschaftlichen Konzepte im Sinne einer Psychoedukation. Ergänzend tauschen sich die Patient:innen in spezifischen Gruppen aus und können in Einzelpsychotherapien über ihre Probleme und Lebenssituationen sprechen. Hinzu kommen Kreativtherapien wie Kunst- oder Körpertherapie, die oft sehr hilfreich sind, inneren emotionalen Zuständen Ausdruck zu verleihen.
Häufig bestehen auch berufliche Probleme, weil die Patient:innen oft lange arbeitsunfähig sind und dadurch der Arbeitsplatz oder generell die Erwerbsfähigkeit gefährdet sind. Hier helfen wir durch eine große berufstherapeutische Abteilung und unseren erfahrenen Sozialdienst, also ein intensives Berufs-Coaching, um Defizite ebenso wie Fähigkeiten genau zu evaluieren, zu trainieren und wieder eine Perspektive zu ermöglichen.
Wie arbeiten Sie mit den Kolleginnen und Kollegen der Akutphase zusammen? Müssen diese erst noch diesbezüglich sensibilisiert werden?
Herrmann: In den Kliniken Schmieder haben wir seit nun 70 Jahren die besondere Situation, dass wir unsere Patientinnen und Patienten von der Akutphase bis hin zur beruflichen Rehabilitation begleiten und behandeln können. Das gebündelte Fachwissen ist einmalig und die enge Zusammenarbeit sowie der Austausch mit den unterschiedlichen Expert:innen funktionieren sehr gut. Wir haben hervorragendes Pflegepersonal.
Unsere Patient:innen profitieren davon erfreulicherweise sehr. Wir müssen unser Angebot sicherlich extern – z. B. bei den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen in den Praxen – noch besser bekannt machen. Es ist noch nicht überall ausreichend bekannt, wie einmalig unser Therapieangebot für Patient:innen mit neurologischen Erkrankungen und hiermit gemeinsam auftretenden psychischen Störungen ist.
Sehen Sie weitere Tätigkeitsschwerpunkte bzw. –potenziale?
Herrmann: Obwohl der Behandlungsbedarf wie geschildert hoch ist, werden psychische Störungen oft nicht ausreichend behandelt bzw. bestehen noch unzureichende Behandlungsangebote für Betroffene. Dies ist besonders fatal, wenn man bedenkt, dass eine unbehandelte Depression umgekehrt das Risiko für eine neurologische Erkrankung wie Schlaganfall oder Demenz verdoppelt.
Auch von Seiten der Betroffenen werden die eigenen psychischen Probleme oft gegenüber den körperlichen Einschränkungen in den Hintergrund gestellt, teilweise auch aus Angst dann nicht mehr ernst genommen zu werden.
Mein Tätigkeitsschwerpunkt wird eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe der Betroffenen sein, um Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörigen unsere Behandlungsangebote bekannter zu machen und diese zu erläutern, auch um Ängste in der Inanspruchnahme abzubauen.
Ein weiteres Potenzial liegt in der noch besseren Nutzung unserer wunderbaren Umgebung hier am Hochrhein. Wir wissen heute aus zahlreichen Untersuchungen, dass eine grüne, naturnahe Umwelt die Genesung fördert. Denken Sie nur an das in Japan bewährte Waldbaden: Shinrin-yoku. Durch das Einatmen von den Bäumen produzierter ätherischer Öle wird unser Immunsystem gestärkt. Es werden unter anderem Killerzellen aktiviert, die gegen Krebs wirken. Durch den Aufenthalt im Wald werden darüber hinaus Angstzustände, Depressionen und negative Emotionen reduziert sowie Stresshormone abgebaut. Blutdruck und Puls sinken. Wir werden diesen Effekt mit unseren bewährten Psychotherapieverfahren, wie zum Beispiel Achtsamkeit oder Entspannungsverfahren, sowie den Sport- und Bewegungstherapien sinnvoll kombinieren und wissenschaftlich weiter untersuchen.
Verstärken wollen wir auch die Begleitforschung unserer Therapien – hier bieten das Lurija Institut für Rehabilitationswissenschaften und Gesundheitsforschung sowie die bewährte Kooperation mit der Exzellenz-Universität Konstanz beste Voraussetzungen.
Die Verbesserung der Inanspruchnahme psychotherapeutischer Behandlungsangebote für neurologisch Erkrankte und die stetige Verbesserung unserer hervorragenden Therapiekonzepte sind mir ein Herzensanliegen.