Prof. Dr. Michael Jöbges und Christoph Herrmann, Ärztliche Leiter der Standorte Konstanz und Gailingen

Interview mit Prof. Dr. Michael Jöbges und Christoph Herrmann, Ärztliche Leiter Konstanz und Gailingen

"Das Krankheitsbild Long Covid ist vielgestaltig."

Wann spricht man von Long Covid, wann von Post Covid?
Jöbges: Die Erkrankung mit SARS-CoV-2 führt zu einer akuten Infektion, die bei den meisten innerhalb von zehn bis 14 Tagen abklingt. Überdauern die Symptome vier Wochen spricht man von einem überdauernden Covid-Infekt. Halten diese Symptome gar länger als zwölf Wochen, so spricht man von einem Post Covid-Syndrom. Symptome sind Geruchs- und Geschmacksverlust, eine vorzeitige Ermüdbarkeit und Erschöpfung sowie Muskel- und Gliederschmerzen. Von einem Long Covid-Syndrom spricht man, wenn nach dem überstandenen Infekt nach einer gewissen Zeit zusätzliche Symptome hinzutreten, die auf den Infekt zurückgeführt werden. Sowohl die Symptome des Post- als auch des Long Covid-Syndroms können chronisch sein und über viele Monate anhalten.

Was macht eine Diagnose von Long Covid so kompliziert?
Herrmann: Die Diagnosestellung beruht auf den Kriterien des Infektionsnachweises und dem Zusammenhang der Symptome mit dem Infektionsgeschehen. Aus diesem Grund handelt es sich bei Long Covid um eine Erkrankung, die ganz unterschiedliche Beschwerden mehrerer Körperorgane in Abhängigkeit vom Infektionsverlauf zeigen kann. Das bedeutet, dass das Krankheitsbild vielgestaltig ist und Beschwerden der Atemwege, des Herz-/Kreislaufsystems sowie des Nervensystems und der Muskulatur umfassen kann. Betroffene suchen daher unterschiedliche medizinische Fachdisziplinen auf und müssen interdisziplinär behandelt werden. Eigentliche Symptomkriterien oder Biomarker wie bei rheumatischen Erkrankungen haben wir nicht oder müssen noch erarbeitet werden.

Was sind die häufigsten Symptome?
Herrmann: Es sind der Geruchs- und der Geschmacksverlust, die Fatigue, d. h. ein Gefühl der vorzeitigen und intensiven körperlichen und geistigen Ermüdung und Erschöpfbarkeit, häufig werden auch Kopfschmerzen, Muskel- und Gliederschmerzen und ein „Hirnnebel“ berichtet. Einige Patienten berichten auch, dass sie über viele Wochen erhöhte Körpertemperatur messen. Sie fühlen sich abgeschlagen und nicht so leistungsfähig. Viele Betroffene realisieren ihre Konzentrations- und Gedächtnisstörungen so richtig erst beim Versuch einer beruflichen Wiedereingliederung. Bei anhaltendem Long Covid-Syndrom mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins finden sich auch Niedergeschlagenheit und Angstreaktionen.

Unterscheiden sich Symptome in Bezug auf Alter und Geschlecht der Patienten?
Jöbges: Aus unseren bisherigen Erfahrungen können wir sagen, dass mehr Frauen das Long Covid-Syndrom erleiden. Wenn Menschen in höherem Lebensalter eine Coronainfektion durchmachen ist für die Prognose entscheidend, welche Vorerkrankungen in welchem Ausmaß vorliegen. Diese können das Symptombild des Long Covid-Syndroms mit beeinflussen.

Wie häufig treten gesundheitliche Langzeitfolgen von Covid-19 auf?
Jöbges: Es gibt viele nationale und internationale Studien und wahrscheinlich haben zehn bis 30 Prozent der Covid 19-Erkrankten auch in irgendeiner Ausprägung Post- oder Long Covid-Syndrome. Die Bundesministerin für Bildung und Forschung Anja Karliczek berichtete von einer geschätzten Zahl von 350.000 Betroffenen von Long- oder Post-Covid-Syndromen in Deutschland.

Welche Menschen sind vor allem von Langzeitfolgen betroffen? Wer ist besonders gefährdet?
Jöbges: Von den Langzeitfolgen sind besonders Menschen betroffen, die einen sehr schweren Verlauf der Akuterkrankung hatten, beatmet werden mussten, auf der Intensivstation waren und dies eventuell für einen langen Zeitraum. Hier besteht die Gefahr, dass neben der Lungenschädigung auch eine Schädigung im peripheren und vielleicht auch im zentralen Nervensystem hinzutritt und dies dann zu Langzeitfolgen führen kann. Auf der anderen Seite sehen wir auch Long Covid-Syndrome nach anfänglich milden Symptomen. Wie bereits erwähnt scheint das weibliche Geschlecht häufiger betroffen zu sein. Es fällt auf, dass auch ein gewisser Anteil von Menschen bereits vor der Coronainfektion einen psychotherapeutischen Behandlungsbedarf hatte und vielleicht auch durch den Coronainfekt in eine besondere psychosoziale Belastungssituation geraten ist. Eindeutige objektive Parameter, die eine Gefährdung voraussagen und die man z. B. in einer Blutuntersuchung oder einer bildgebenden Untersuchung identifizieren könnte, sind mir allerdings nicht bekannt.

Können auch Erkrankte mit milden Verläufen an Long Covid erkranken?
Herrmann: Es ist mir wichtig zu betonen, dass wir insbesondere Betroffene mit Long Covid sehen, die initial einen milden Verlauf haben und nicht krankenhausbehandlungspflichtig waren. Diese machen den Großteil der Betroffenen mit Long Covid aus, da nur jeder Fünfte Covid-Erkrankte im Krankenhaus behandelt wird.

Kann man als Einzelperson vorbeugen?
Jöbges: Man kann als Einzelperson etwas sehr Wichtiges tun: Man kann sich gegen das Coronavirus impfen lassen. Sollte man sich mit dem Coronavirus infiziert haben und bemerkt überdauernde Symptome, so erscheint es aus dem heutigen Blickwinkel sinnvoll, nach einer kurzen Periode der Schonung sich selbst wieder zu belasten. Wenn man in psychosoziale Belastungssituationen kommt, sollte man frühzeitig um Hilfe suchen.

Welche Ursachen haben die Symptome?
Jöbges: Wir wissen, dass es bei sehr schwer betroffenen Patienten mit Corona-Infektionen auch zu entzündlichen Veränderungen im Bereich des Gehirns kommt und dass es dort auch zu Verstopfungen der Blutgefäße kommen kann. Wir haben aber bisher bei den Long Covid-Syndromen keinen eindeutigen pathophysiologischen Auslöser finden können. Auch zahlreiche immunologische Untersuchungen, die im Bereich des Immunsystems nach einer Ursache gesucht haben, konnten bisher keinen eindeutigen Nachweis führen, dass bestimmte Immunreaktionen hierfür schuld sind.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Herrmann: Wir haben ein interdisziplinäres, ganzheitliches Rehabilitationskonzept bei Long Covid entwickelt, das umfassende Behandlungsangebote für Information, Krankheitsverarbeitung, Training der Riech- und Atemfunktion sowie der körperlichen, geistigen und psychischen Funktionen und Ausdauer umfasst. Wichtig ist hierbei, wieder das Selbstvertrauen der Betroffenen zu stärken und gemeinsam die richtige Einteilung der Belastung herauszufinden. Wir konnten bei Rehabilitanden, die zum Teil über viele Monate an dem Long Covid-Syndrom litten, teilweise sehr gute Erfolge erzielen.

Über welche Zeiträume kann sich eine Long Covid-Erkrankung ziehen?
Jöbges: Wir haben aber in unserer Behandlung auch Rehabilitanden, die sich im Rahmen der ersten Welle der Coronapandemie infiziert haben, d. h. wir verfügen über Erfahrungen mit Menschen, die deutlich über ein Jahr an dem Long Covid-Syndrom erkrankt sind und aus deren Krankheitsverläufen es nicht absehbar war, dass dieses Long Covid-Syndrom von alleine zum Stillstand kommt. Bei einigen sind im Rahmen der Chronifizierung Mechanismen aufgetreten, die die Symptome sogar eher verschlimmert als verbessert haben.

Können Impfungen Long Covid verhindern?
Jöbges: Die Corona-Impfungen können leider nicht hundertprozentig vor einem Infekt schützen. Sie verhindern jedoch einen schweren Verlauf einer Erkrankung, so dass nur sehr wenige Geimpfte, wenn sie sich infizieren, auf der Intensivstation behandelt oder gar beatmet werden müssen. Damit kann man schweren Schädigungen innerer Organe gut vorbeugen. Die genauen Ursachen für Long Covid-Syndrome sind noch nicht aufgeklärt und man kann auch bei leichten Verläufen im Rahmen der akuten Infektion ein Long Covid-Syndrom erleiden.

Wo finden Betroffene weitere Informationen?
Jöbges: In den sozialen Medien kreisen zahlreiche zum Teil völlig abstruse Informationen zur Covid-19-Erkrankung, zu den Impfungen und auch zum Long Covid-Syndrom. Es erscheint besonders wichtig, dass Betroffene neutrale und fachlich abgewogene Informationen erhalten. Dies kann leider zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht von allen Informationen aus Long Covid-Selbsthilfegruppen gesagt werden. Eine sehr gute Informationsquelle ist für mich der Blog von Paul Garner, der berichtet, wie er das Long Covid-Syndrom erlebt hat und wie er auch dessen Folgen überwunden hat.

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