Sensibilitätsstörungen und Bewegungsvorstellung

Forschungsschwerpunkt

Sensibilitätsstörungen und Bewegungsvorstellung

In der Neurorehabilitation wird mentales Training zunehmend häufig zur Therapie eingesetzt. Aufgabe der Patient:innen ist es, sich vorzustellen, wie sie bestimmte Bewegungsabläufe durchführen. Dabei kann es zum Beispiel um das Ergreifen von Gegenständen, aber auch um das Übersteigen von Hindernissen gehen. Diese Fähigkeit sich Bewegungen vorzustellen wird auf unterschiedliche Weise gemessen:

  • Mittels Fragebögen kann man die Intensität der Vorstellung durch die Patienten selbst einschätzen lassen.
  • Man kann die mentale Chronometrie ermitteln. Das ist die zeitliche Differenz zwischen der vorgestellten und der tatsächlichen Dauer der Aufgabe.
  • Man kann die räumliche Vorstellungsfähigkeit messen.

Dabei erhalten die Patient:innen beispielsweise die Aufgabe, zu erkennen, ob eine auf dem Computerbildschirm in verschiedenen Positionen gezeigte Hand die rechte oder die linke Hand darstellt (Handidentifikationstest). Die klinische Erfahrung zeigt, dass Patient:innen mit einer schweren Sensibilitätsstörung ohne visuelle Kontrolle nicht wissen, wo sich ihr Arm im Raum befindet. Daher erscheint es möglich, dass eine schwere Sensibilitätsstörung auch die Fähigkeit der Bewegungsvorstellung beeinträchtigen könnte. Wir untersuchten dies in einer Pilotstudie und fanden eine signifikant schlechtere mentale Chronometrie in einer Gruppe von zehn Schlaganfallpatient:innen mit schwerer Sensibilitätsstörung verglichen mit zehn Schlaganfallpatient:innen, die eine Parese (Lähmung) ohne Sensibilitätsverlust aufwiesen (Liepert et al., 2012).

In einer deutlich umfangreicheren Studie, die 2016 publiziert wurde, untersuchten wir die Frage nach einem Zusammenhang zwischen Sensibilitätsstörung und Bewegungsvorstellung noch differenzierter. Unsere Schlaganfallpatient:innen wurden in drei Gruppen (Gruppe 1: rein motorische Funktionsstörung ohne Beeinträchtigung der Sensibilität; Gruppe 2: leichte bis mäßige Sensibilitätsstörung; Gruppe 3: schwere Sensibilitätsstörung) eingeteilt und mit einer alterskorrelierten Gruppe gesunder Proband:innen verglichen. Als Tests für Bewegungsvorstellung wurden die mentale Chronometrie und das räumliche Vorstellungsvermögen eingesetzt. Die mentale Chronometrie wurde durch den Box-und-Block-Test (Bild S. 50) untersucht. Die Patient:innen saßen vor einer Box, die in der Mitte eine Trennwand hatte (siehe Bild links). Aufgabe war es, 15 Würfel einzeln von der einen Seite der Box über die Trennwand zur anderen Seite der Box zu befördern. Die Patient:innen führten diese Aufgabe zunächst mental durch und signalisierten, wenn sie meinten, fertig zu sein, danach folgte die tatsächliche Durchführung der Aufgabe. In beiden Fällen wurde die Zeit gestoppt und voneinander abgezogen (Zeit für Durchführung minus Zeit für Vorstellung). Als Test für die räumliche Vorstellung wurde der Handidentifikationstest verwendet.

Die räumliche Vorstellungsfähigkeit war in allen Gruppen ähnlich. Die mentale Chronometrie fiel in der Gruppe der schwer sensibilitätsgestörten Patient:innen signifikant schlechter aus als in den anderen Patientengruppen und der gesunden Kontrollgruppe (Liepert et al., 2016). Darauf aufbauend untersuchen wir nun, ob Schlaganfallpatient:innen von einem einmaligen, 30 Minuten andauernden Bewegungsvorstellungstraining profitieren und ob es Unterschiede je nach Schwere einer Sensibilitätsstörung gibt.

Temporäre Deafferentierungs-Effekte auf Handfunktion und Erregbarkeit des Gehirns bei Gesunden

In der Hirnrinde gibt es sowohl für Bewegungen (im motorischen Kortex) als auch für Sensibilität (im sensiblen Kortex) spezifische Repräsentationsareale. Die Frage war, ob eine vorübergehende Anästhesie der Haut von Ober- und Unterarm das kortikale Repräsentationsareal der (nicht anästhesierten) Hand verändert und so zu einer vorübergehenden Funktionsverbesserung der Hand und motorischen Erregbarkeitssteigerung der Handmuskulatur führt.

Zur Beantwortung dieser Frage wurden gesunde Proband:innen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten in einem placebo-kontrollierten Studiendesign untersucht. Eine vom Oberarm bis zum Handgelenk auf die Haut aufgetragene Lidocain-haltige Creme führte zu einer Abschwächung des Empfindens in diesem Bereich. Als Kontrollbedingung wurde eine Creme ohne Wirkstoff aufgetragen. Nach einstündiger Einwirkzeit nahmen die Probanden an einem Handfunktionstest (Nine-Hole-Peg-Test) und an einer Sensibilitätstestung (Grating orientation Testung, von Frey Haar-Testung) teil. Die motorische Erregbarkeit wurde mittels transkranieller Magnetstimulation untersucht.

Zusammenfassend gab es weder in den motorischen und sensiblen Funktionstestungen noch bei der Untersuchung der motorischen Erregbarkeit Unterschiede zwischen Lidocainhaltiger Creme und Placebo-Creme. Die reine Hautanästhesie scheint nicht auszureichen, um bei Gesunden Verhaltens- oder Erregbarkeitsveränderungen zu bewirken (Sehle et al., 2016).

Literatur

Braun N, Kranczioch C, Liepert J, Dettmers C, Zich C, Büsching I, Debener S. Motor Imagery Impairment in Postacute Stroke Patients. Neural Plast. 2017:2017-4653256. doi:10.1155/2017/4653256. Epub 2017 Mar 28.

Liepert J, Büsching I, Sehle A, Schoenfeld MA. Mental chronometry and mental rotation abilities in stroke patients with different degrees of sensory deficit. Restor Neurol Neurosci. 2016, 34: 907-914.

Sehle A, Büsching I, Vogt E, Liepert J. Temporary deafferentation evoked by cutaneous anesthesia: behavioral and electrophysiological findings in healthy subjects. J Neural Transm. 2016, 123: 473-480.

Autor

Prof. Dr. Joachim Liepert
Ärztlicher Leiter Neurorehabilitation
Kliniken Schmieder Allensbach

Stiftung-Schmieder-Preis