»Ich bin anders gesund«

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Maike Volkmar-Helberg fand zu neuer Gelassenheit

»Ich bin anders gesund«

Multiple Sklerose

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Entmarkungserkrankung des zentralen Nervensystems. Neben der Epilepsie ist sie eine der häufigsten neurologischen Krankheiten bei jungen Erwachsenen. Die meisten Patient:innen sind zwischen 20 und 40 Jahre alt, wenn die Symptome zum ersten Mal auftreten. Bei mehr als einem Drittel der Patient:innen fängt die MS mit Gefühlsstörungen an: Arme oder Beine fühlen sich taub an oder es kribbelt auf der Haut. Ziel der therapeutischen Maßnahmen ist es, die Unabhängigkeit der Patient:innen im Alltag zu erhalten. Die beste erreichbare Lebensqualität soll gewährleistet werden.

Maike Volkmar-Helberg wird bereits mit 18 Jahren von zwei schweren Schicksalsschlägen getroffen: 1999 erleidet sie bei einem Verkehrsunfall ein Schädel-Hirn-Trauma, und nur ein Jahr später erhält sie die Diagnose Multiple Sklerose. Trotz dieser dramatischen Wendungen bleibt sie positiv und begegnet ihrem Leben mit beeindruckender Stärke und Optimismus.

Ich habe eine heftige Zeit durchlebt: Bei einem schweren Verkehrsunfall erlitt ich 1999 ein gravierendes Schädel-Hirn-Trauma. Zusätzlich habe ich eine Subamputation vom linken Oberarm und eine offene Trümmerfraktur am linken Bein. Diese Fraktur beeinträchtigt mich bis heute, denn bei längeren Strecken bin ich auf einen Rollstuhl angewiesen. Durch den subamputierten linken Oberarm habe ich eine Fallhand. Durch die Schädigung der Nerven kann ich das Handgelenk nicht aktiv anheben, meine linke Hand hängt immer nach unten. Damals lag ich fast drei Wochen im Koma. Zehn Monate später, im Mai 2000, erhielt ich die Diagnose Multiple Sklerose (MS).

Diagnostiziert bin ich mit einem schubförmigen Verlauf. Ich hatte aber seit 2008 keine Schübe mehr. Ich sage immer, dass mein MS schläft. Jeden Abend bekommt mein MS die Medikamente, die es braucht und auch die Liebe und Fürsorge von mir. Für mich kann es ruhig so weitergehen.

Ich habe damals so schön gesagt: „Der Unfall hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen und die Diagnose hat mir den Himmel auf den Kopf fallen lassen.“ Der Boden war noch nicht da, das war gut, sonst wäre ich heute platt gewesen. Es waren zwei gesundheitliche Extreme, die in meinem Leben passiert sind. Da musste ich mir die Frage stellen, ob ich daran kaputt gehe oder nicht. Und für mich war es ganz klar: Nein ich werde nicht daran kaputtgehen, ich finde einen Weg damit umzugehen.

Nach dem Unfall musste ich komplett von vorne anfangen: Ich musste wieder sprechen, rechnen, laufen, logisch denken und schreiben lernen. Das ging alles in einem Schnelldurchlauf. Meine erste Reha nach dem Unfall war in Hessisch Oldendorf. Danach folgten noch einige Reha-Aufenthalte in anderen Kliniken. Später hat mir eine Freundin von den Kliniken Schmieder erzählt und gesagt: „Du, die sind gut, dort gefällt es dir bestimmt.“ Anfangs dachte ich, dass ich in Konstanz am besten aufgeboben wäre. Doch als ich das erste Mal nach Gailingen kam, habe ich gemerkt, dass es für mich genau die richtige Entscheidung war.

Der Grund, warum es mir in Gailingen so unglaublich gut gefällt, ist die Abgeschiedenheit. Es ist, als würde man die Welt für eine kurze Zeit ausschalten. Hier bekommt man keine Nachrichten mit und es fühlt sich an, als würde man in einer Art schützender Blase leben – wie unter einer Käseglocke, in der alles gut ist und man von der Außenwelt nichts mitbekommt. Ich habe das Gefühl, dass die Zeit hier stillsteht. Seit 2017 komme ich jedes Jahr für sechs Wochen nach Gailingen, weil es mir einfach guttut. In der Reha kann ich meine Batterien wieder aufladen und das ganze Jahr über von dieser Energie zehren. Wenn ich in Gailingen bin, dreht sich alles nur um mich und meine Gesundheit. Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, was ich am Nachmittag koche, denn das Essen ist bereits zubereitet. Auch Haushalt und Arbeit rücken in den Hintergrund – es geht nur um mich selbst.

Eine große Hürde waren meine chronischen Schmerzen im Bein. Doch im letzten Jahr hatte ich hier einen Physiotherapeuten, der wahre Wunder vollbracht hat. Er stellte mich auf das Laufband, beobachtete meine Hüfte und renkte das Bein ein. Es war völlig schmerzfrei. Seitdem schreite ich wie eine Göttin, auch wenn ich selbst behaupten würde, dass mein Gang eher dem eines jungen, flügellahmen Rehs gleicht. Neben der Physiotherapie tut mir auch die Werktherapie sehr gut. Ich kann sehr viel mit den Händen machen und mich kreativ ausleben. Ich habe viele Dinge gebastelt, z. B. Weihnachtsdekoration gestaltet oder aus einer Holzkiste eine Insektenhöhle gebaut.

Vor einigen Monaten habe ich mein 25-jähriges Jubiläum gefeiert. Während andere bei einem Jubiläum an ein großes, freudiges Ereignis denken, verbinde ich es mit meinem Unfall. Doch auch für mich ist es ein bedeutendes Ereignis. Der da oben, der große Manitu, muss einen Grund gehabt haben, dass ich erstens den Unfall überlebt habe und zweitens mit der MS-Diagnose konfrontiert wurde.

Es ist, wie es ist – ich kann es nicht ändern, also warum sollte ich mich darüber ärgern? Ich sehe mich nicht als krank, sondern als anders gesund. Meine Rahmenbedingungen unterscheiden sich vielleicht von denen der meisten Menschen, aber ich kann ein normales Leben führen wie alle anderen auch. Natürlich könnte ich endlos darüber nachdenken, warum alles so gekommen ist, aber das will ich nicht. Denn das Leben ist schön, und ich möchte es in vollen Zügen genießen.

Durch meine persönliche Geschichte kann ich auch vielen anderen Menschen helfen. Das habe ich mir auch beruflich zur Aufgabe gemacht. Als Angestellte einer Hochschule arbeite ich als Beauftragte für Studierende mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen und teile hier mein Wissen. Darüber hinaus engagiere ich mich auch ehrenamtlich: Ich bin Mitglied der Fraternität in Friedrichshafen. Das ist ein Verein für Langzeitkranke und Menschen mit Behinderungen und wir unterstützen sie bei Problemen und Alltagshürden.

Wenn jemand Angst hat und noch nie in Reha war, kann ich nur eins raten: Traut euch, macht es und geht ohne Angst hin. Es wird eine schöne Zeit. Also die Zeit wird dann schön, wenn du der Zeit erlaubst, schön zu werden.

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